Wie Nichtstun zum Desaster wird

Als Holger mir seine Geschichte erzählte, war das Ereignis schon ungefähr vier Wochen her. Aber er war noch immer völlig fassungslos.

Holger ist in einem hochspe­zia­li­sierten Umfeld tätig. Er erstellt Angebote. Nicht irgend­welche Angebote, sondern Fachangebote mit langen Konzeptanteilen und vor allem nach sehr kompli­zierten und spezi­ellen EU-Vergaberichtlinien. Er arbeitet in einem Umfeld, in dem man sich nur sehr langsam zurecht­findet, für das man viel Erfahrung braucht und für das es keinen Ausbildungsgang oder kein Studienangebot gibt. Holger ist durch seine Spezialisierung ein sehr wertvoller Mitarbeiter für sein Unternehmen. Denkt man.

Holger hat ursprüng­lich in Köln gearbeitet, bis seine Firma von einem Unternehmen in Frankfurt übernommen wurde. Alle Mitarbeiter aus Köln wurden weiter­be­schäf­tigt und der Standort wurde, zumin­dest zum Teil, erhalten. Holger konnte eine akzep­table Vereinbarung aushan­deln und pendelt seitdem an drei Tagen in der Woche nach Frankfurt. Immerhin: Er musste nicht umziehen. Holger hatte erst vor wenigen Jahren ein Haus im Kölner Umland gekauft und seine Familie hätte einen Komplettumzug nach Frankfurt wohl nicht mitge­macht. Diese Angst war also zunächst einmal vom Tisch.

Circa ein Jahr nach der Übernahme des Unternehmens saß Holger morgens an seinem Schreibtisch in der Frankfurter Zentrale. Das war der Tag, von dem Holger mir erzählte. Holgers Schreibtisch steht in einem Großraumbüro direkt neben dem Meetingraum, der mit Glaswänden vom übrigen Raum getrennt ist. Gegen zehn Uhr fand eines der üblichen Meetings statt. Holger hat das Meeting aus dem Augenwinkel beobachtet. So wie er alle Meetings aus dem Augenwinkel beobachtet – unver­meid­lich in einem so offenen Büro. Irgendetwas war anders an diesem Morgen. Aber was? Einige Kollegen waren da. Die Abteilungsleiterin. Der Geschäftsführer war dabei. Was macht der denn da? Der ist doch sonst nie dabei. Und es sind nur Kollegen aus Köln da. Okay, das sind die Kollegen aus der IT. Aber komisch ist das schon …

Als das Meeting etwa fünf Minuten lief, bemerkte Holger wie die Gesichter der Kollegen immer länger wurden. Geredet hatte bis dahin eigent­lich nur einer. Fragen wurden gestellt, Antworten gegeben. Das Meeting war nach 20 Minuten vorbei.

Ein wenig später ging Holger in die Küche, um sich einen Kaffee zu holen. Er traf dort zwei Kollegen aus dem Meeting, die mitein­ander redeten. Holger fragte ganz unbedarft: „Was war denn das für ein merkwür­diges Meeting? Was hat denn der O. (Name des Geschäftsführers) da gewollt?“ „Köln wird dicht gemacht“, sagte einer der beiden, „in sechs Wochen, zum Ende des nächsten Monats.“ Holger war wie vom Donner gerührt.

Und dann passierte das, was Holger noch vier Wochen nach dem Meeting völlig fassungslos machte:

NICHTS.

Niemand hatte mit Holger gespro­chen. Auch nach vier Wochen noch nicht. Keiner seiner Vorgesetzten hat ihn von der Schließung in Kenntnis gesetzt. Nicht mündlich, nicht telefo­nisch, nicht schrift­lich. Gar nicht. Er hatte es in der Kaffeeküche erfahren und das war die einzige Aussage ihm gegen­über. „Warum machen die das mit mir?“, hat mich Holger gefragt, als er mir die Geschichte erzählte.

„Warum machen die das mit mir?“ Diese Frage hat mich seitdem nicht mehr losgelassen.

Niemand hat etwas mit Holger „gemacht“. Niemand hat mit Holger gespro­chen. Niemand hat Holger einen Vorwurf gemacht. Keiner hat tatsäch­lich etwas gemacht. Und trotzdem fragt Holger: „Warum machen die das mit mir?“ Und das ist es, was Holger so betroffen macht. Es ist nicht die Standortschließung. Das war vielleicht sogar absehbar. Es ist die Missachtung durch Nichtstun.

Die Juristerei kennt den Begriff der „Unterlassung“. Damit ist gemeint, dass wenn jemand absicht­lich nichts tut und dadurch Schaden anrichtet, das wie eine aktive Schädigung zu werten ist. Mit anderen Worten: Mit Absicht nichts tun, obwohl es notwendig gewesen wäre, etwas zu tun, ist genauso folgen­reich, wie mit Absicht das Falsche zu tun.

Hatten sie Holger einfach nur vergessen? „Wie kann man mich denn nur vergessen?“ Oder steckt tatsäch­lich mehr dahinter: eine Absicht oder gar eine Strategie? „Wollen die mich vielleicht loswerden?“

Man hätte Holger mit in das Meeting einladen können. Man hätte ihn alter­nativ unmit­telbar im Anschluss an das Meeting infor­mieren können. Man hätte ihm gegen­über zum Ausdruck bringen können, wie sehr man seine Mitarbeit schätzt und dass man ihn nicht verlieren möchte. All das hat man nicht getan und deswegen liegt der Schluss nahe, es sei aus Absicht geschehen.

Für das Ergebnis ist diese Frage nicht entschei­dend: Holger hat das Unternehmen mittler­weile verlassen – aber nicht als einziger. Er ist zu einem Konkurrenten gegangen, der in Köln einen Standort eröffnet hat. Mehrere Kollegen aus der alten Kölner Firma sind mittler­weile dort und helfen beim Aufbau des Wettbewerbers. Das Desaster für die Frankfurter Firma könnte eigent­lich nicht größer sein.

Was lässt sich aus der Geschichte lernen?

  • Mangelnde Projektkommunikation mit den Betroffenen und Beteiligten verur­sacht nicht einfach ein schlech­teres Projektergebnis, sie verur­sacht weitrei­chende Schäden. Es ist ja nicht nur so, dass Holger und einige Kollegen nun beim Wettbewerber arbeiten. Der schlechte Umgang mit den Kollegen wirft ein äußerst schlechtes Licht auf die Geschäftsführung und schürt das Misstrauen im Unternehmen. Der Führungsstil und das Vertrauen gegen­über der Geschäftsführung stehen insge­samt auf dem Prüfstand.
  • Fehlende Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen macht verdächtig. Es heißt: „Vertrauen ist die Basis jeden Geschäfts“. Das gilt auch für die Beziehung von Chef und Mitarbeiter. Gute Kommunikation ist die Basis für Vertrauen. Werden Entscheidungen getroffen und die Gründe sind nicht unmit­telbar plausibel, muss umso inten­siver kommu­ni­ziert werden, um vorhan­denes Vertrauen nicht zu verspielen. Wer das nicht tut, sugge­riert unklare Absichten. Unklare Absichten gefährden Vertrauen.
  • Jede aktiv betrie­bene Veränderung im Unternehmen erfor­dert Sensibilität und Aufmerksamkeit. Auch vermeint­lich kleinere Change-Projekte können eine große Wirkung haben und bedürfen somit eines guten Projektmanagements.

Hätten sie Holger halten können? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Holger hätte mögli­cher­weise sowieso irgend­wann gekün­digt, weil er keine Lust mehr auf die Pendelei gehabt hätte. Diese Entscheidung hat man ihm aber durch mangelnden Respekt und einen misera­blen Umgang sehr leicht gemacht.

Das hätte man auch anders machen können…

» Dieser Artikel ist erschienen im Bändchen „Change – so oder so“ in der HLP-Management-Diskurs-Reihe, Frankfurt, Oktober 2015 (siehe auch) «

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